Über Ökosysteme – und was sie für die Assekuranz bedeuten
Am 28.10.2020 merkte der CEO von ONE Oliver Lang gegenüber der Versicherungswirtschaft Heute an: „Auch die Allianz wird nie Zentrum eines Ökosystems“. In die gleiche Kerbe schlug Andreas Schertzinger, Manager der der Swiss-Re-Digitaltochter iptiQ: „Versicherer orchestrieren Ökosysteme nicht […]“. Vertreter etablierter Versicherungen äußern sich eher wie Dr. Norbert Rollinger von der R+V „Ein eigenes Ökosystem ist der Königsweg.“ Oder Achim Kassow von der ERGO: „Es wäre ideal, eigene Ökosysteme zu schaffen“. Offensichtlich beschäftigt das Thema unsere Branche, allerdings fehlen augenscheinlich (noch) die Rezepte bzw. Strategien, wie man sich diesem Thema nähern kann. Oder um es mit Oliver Bäte von der Allianz auszudrücken: „Ökosysteme sind schnell gesagt, aber schwer gemacht.“.
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Begriffsklärung
Wegen des mittlerweile inflationären Gebrauchs besteht die Notwendigkeit, einen definitorischen Rahmen zu geben. Ein Ökosystem im ökonomischen Kontext ist ein Netzwerk von Akteuren, die in Bezug auf eine bestimmte menschliche oder organisationale Bedürfniswelt Schlüsselkomponenten ihrer Produkte oder Dienstleistungen integriert bereitstellen und dadurch einen gemeinsamen Markt schaffen oder bedienen. Der erzielte Kundennutzen übersteigt durch positive Netzwerkeffekte die Summe der einzelnen Leistungen, der am Ökosystem beteiligten Unternehmen und macht damit den Unterschied zu einem bloßen Netzwerk oder einer linearen Wertschöpfungskette. Hier existieren diverse Spielarten, wie Netzwerkeffekte auch in der Versicherung sinnvoll genutzt werden können. Die Nutzung von gepoolten Daten verbessert zum Beispiel Algorithmen, wie sie in der Automatisierung und in der KI für die Risikoprüfung, parametrisierte Produkte oder Dokumentenerkennung eingesetzt werden. Sie sind jedoch auf die Optimierung des Algorithmus selbst beschränkt. Das Zusammenbringen von Produktanbietern und Vertrieben – bereits seit langem durch Maklerpools und Produktvergleicher besetzt – oder Financial Home sind andere Bereiche, in denen Netzwerkeffekte bereits heute entstehen.
Zentrale Treiber und die Rolle von Zielgruppen
Ökosysteme werden in der Regel nicht erschaffen, sondern entstehen durch das Zusammenwirken verschiedener, voneinander unabhängiger Akteure. Und diese wiederum werden maßgeblich von zwei wesentlichen Treibern beeinflusst:
- Technologie: Technologischer Fortschritt ermöglicht neue Arten der Vernetzung und wirkt damit als Katalysator für neue Ökosysteme. In diesen können neue Produkte und Dienstleistungen entwickelt werden, die sich ihre Nachfrage und damit einen neuen Markt schaffen. Die wohl bekanntesten Beispiele dafür sind die großen Plattform-Ökosysteme der Tech-Giganten sowie alle Spielformen von IoT. Weitere zentrale Impulse gehen von den Bereichen Cloud, SaaS und API aus.
- Kunde: Er entscheidet durch sein Handeln über Erfolg und Misserfolg. An seinen Bedarfen muss das Ökosystem ausgerichtet werden. Im Normalfall existieren bereits lineare Wertschöpfungsketten und Netzwerke zur Bedarfsdeckung. Wenn es um Endverbraucher geht, so werden Bedarfe in den sogenannten Lebensbereichen wie Gesundheit, Finanzen, Mobilität, Freizeit etc. gedeckt.
In der Realität wirken beide Treiber zumeist parallel. Technologien haben nur dann nachhaltigen Erfolg, wenn sie Kundennutzen generieren. Umgekehrt werden Grundbedürfnisse durch neue Technologien zunehmend besser erfüllt. So eröffnet zum Beispiel Smart Home durch die Möglichkeiten von IoT ganz neue Möglichkeiten – gemütliches und sicheres Wohnen ist aber ein seit Menschengedenken bestehendes Grundbedürfnis.
Ein zentraler Erfolgsfaktor in der Ausgestaltung von Ökosystemen ist eine klar definierte Zielgruppe, da es nur so möglich ist, einen klaren Kundennutzen herauszuarbeiten und positive Netzwerkeffekte zu erzielen. Um im Beispiel Smart Home zu bleiben: Die bloße Vernetzung einer Wohnung mit ihrer Umwelt bringt noch keinen Mehrwert. Wenn aber einem Vielreisenden geholfen wird, Energie zu sparen oder älteren Menschen ermöglicht wird, länger selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden zu leben, kristallisiert sich ein wirklicher Kundennutzen heraus und das Ökosystem wird erlebbar.
Versicherer sollten akzeptieren und verstehen, dass aus bestehenden Strukturen über positive Netzwerkeffekte ständig neue Ökosysteme entstehen. Und dass sich hierbei sowohl Umsatzpotenziale (durch neue Zielgruppen, neue Produkte) als auch Kosteneinsparungen (z.B. durch Claims-Vermeidung) für sie ergeben.
Die Rolle des Versicherers
Die Rolle des Versicherers in Ökosystemen kann verschiedene Ausprägungen annehmen – im Kern stellt sich hier die klassische „make-or-buy“-Entscheidung als „grow-or-join“. Ökosysteme werden sich immer dort bilden, wo Kunden freiwillig und gerne, zumindest aber durch eigenen Bedarf getrieben, hingehen. Versicherung ist und bleibt aber ein Push-Produkt – mit geringer Interaktionsfrequenz und damit fehlender Alltagsrelevanz. Eine zentrale Rolle drängt sich damit nicht unmittelbar auf – insofern gebe ich Herrn Lang von ONE recht, zumindest teilweise.
Wenn potenzielle Ökosysteme allerdings wie beschrieben über Zielgruppen und Ausschnitte von Lebensbereichen kleiner gedacht werden, kann ein Versicherer durchaus zum Zentrum eines Ökosystems werden. So kann er z.B. Smart-Home-Lösungen im Rahmen seines Produktmanagements initiieren und managen. Denkbar ist hier eine direkte Kopplung an die Gebäude- und Hausrat- aber auch an die Pflegeversicherung. Für Berufsanfänger kann eine digitale Auslandsreisekrankenversicherung mit vielen Zusatzservices (Reisewarnungen, empfohlene Impfungen, Reisetipps, Medikamentenservice etc.) entwickelt werden. Oder wie das kombinierte KMU-Angebot von Pylot zeigt, einem Start-up der Signal Iduna: über ein zielgruppenorientiertes (Bäckerhandwerk), betriebswirtschaftliches Dienstleistungsportfolio (inkl. Versicherungsschutz) wird ein smartes Netzwerk aufgezogen. Im Zentrum steht dann jeweils der Versicherer mit einer (Technologie-)Plattform und einem diversifizierten Angebot von Dienstleistungen und Versicherungen, je nach Business Case limitiert auf Versicherte oder als offenes System.
Bereits heute relevante Ökosysteme
Zu meinem beruflichen Alltag gehört es, Business-Netzwerke zu modellieren, potenzielle Ökosysteme zu analysieren und damit eine datenbasierte Entscheidungsgrundlage für strategische Entscheidungen „grow-or-join“ zu liefern. Die Erfahrung zeigt, dass es nur wenige Lebensbereiche gibt, in denen Versicherer keine Rolle spielen (können). Neben dem Gesundheitsbereich sind potenzielle Ökosysteme in Mobilität (Kfz-Telematiktarife), Konsum (Annex-Produkte), Freizeit (Kurzzeitversicherungen) und Arbeit (Produkte zur Arbeitskraftabsicherung) bereits heute hoch relevant für die Assekuranz. Spannend sind aktuell die folgenden Entwicklungen:
- Lebensbereich Gesundheit: Krankenversicherer spielen hier schon immer eine zentrale Rolle mit signifikanter Interaktionsfrequenz. Der „Wettkampf“ um die zentrale Rolle ist eröffnet: Als weitere Wettbewerber sind Ärzte, Apotheken, Krankenhäuser, Pharma-Unternehmen aber auch Health-Techs, Sport- und Fitness-Dienstleistern im Rennen.
- Lebensbereich Arbeit: Hier ist die Versicherung bereits heute unverzichtbarer Bestandteil (z.B. über Krankentagegeld, Berufsunfähigkeit). Allerdings sollte dies für die privaten Versicherer mit Blick auf die Verbreitung von Produkten der Arbeitskraftabsicherung in der Bevölkerung noch lange nicht zufriedenstellend sein. Die allgemeine Vernetzung ist hier noch nicht fortgeschritten – es besteht noch viel Gestaltungsspielraum aber auch viel Unsicherheit. Bisher sind leider aus der Assekuranz erst sehr wenige Initiativen erkennbar – insbesondere Lebensversicherern stehen hier über zielgruppenorientierte Ökosystemansätze viele Möglichkeiten offen.
- Finanzen: PSD2 hat frischen Wind in das Thema Bankassurance gebracht. Auf einmal ergaben sich durch Algorithmus-basierte Erkenntnisse aus Kontobewegungen neue Möglichkeiten auch für den Versicherungsvertrieb. Der analytische Proof-of-Concept ist mehrfach erbracht. Allerdings blieb es (Gott sei Dank) dem Endverbraucher überlassen, wem er die Erlaubnis zum Crawling erteilte. Aus einer Revolution wurde eine Evolution… Die European Data Strategy lässt nun auf eine analoge Öffnung der Versichertendaten per Direktive aus Brüssel schließen, was durch die aktuelle EIOPA-Konsultation bestätigt wird. Damit werden – diesmal auf Basis der Versichertendaten – neue Services entwickelt und damit auch für Versicherer neue Touch Points ermöglicht. Einzig offene Frage: bleiben die Versicherer wie seinerzeit die Banken passiv? Oder werden sie mitgestalten und damit eine zentrale Rolle in zukünftigen Ökosystemen einnehmen?
Was tun?
Fakt ist, dass wir mittendrin sind statt nur dabei. Branchenübergreifende Ökosysteme bilden sich kontinuierlich und in zunehmendem Tempo aus – viele davon relevant für Versicherer. Grundsätzlich können und sollen nicht alle sich bietenden Opportunitäten verfolgt werden. Umso mehr gilt es, auf Basis von Datenanalyse, Experteneinschätzung, aber auch mit dem guten „Bauchgefühl“ eine klare und trotzdem flexible Ökosystem-Strategie zu entwickeln. Initiativen sollten sich an klar umrissene Zielgruppen wenden, über Netzwerke und Partnerschaften funktionieren und von Anfang an auf positive Netzwerkeffekte setzen. Die Rolle des Versicherers ist dabei zweitrangig, solange sie klar definiert ist. Nur eines ist sicher: Keine Rolle ist die schlechteste Lösung.