Kultur-Clash und KI-Agenten: Dr. Xenia Schmahl über die Zukunft der Insurtech-Kooperationen
Geschwindigkeit trifft Bürokratie, Agilität stößt auf starre Strukturen: der Kultur-Clash zwischen Start-ups und Versicherern ist Realität. Doch laut Dr. Xenia Schmahl liegt die wahre Transformation noch vor uns – getrieben von KI-Agenten und datenbasierten Ökosystemen.

Die Kooperation mit Start-ups ist für Versicherer im aktuellen Branchenumbruch unerlässlich, erweist sich in der Praxis jedoch oft als komplex und hürdenreich. „Die häufigsten Herausforderungen sind oft nicht technischer, sondern kultureller Natur“, erklärt Dr. Xenia Schmahl, Director Insurtech EMEA (Wirtschaftsraum Europa, Naher Osten und Afrika) bei Plug & Play. Als eine der führenden Vermittlerinnen zwischen alter und neuer Welt kennt sie die typischen Stolpersteine genau: ein „Geschwindigkeits-Clash“ zwischen agilen Gründern und trägen Konzernprozessen, starre IT-Systeme und eine oft fehlende strategische Verankerung im Top-Management.
Doch während viele noch an diesen Hürden arbeiten, ziehen am Horizont bereits die nächsten, unumkehrbaren Trends auf. Laut Schmahl wird die Zukunft nicht durch eine, sondern durch die „Symbiose zweier Megatrends“ bestimmt: agentische KI und datenbasierte Ökosysteme.
Im Interview berichtet die Expertin über Kooperationsstolpersteine, fundamentale Trends und wie es gelingt, diese im Blick zu behalten. Zudem freuen wir uns, dass Dr. Xenia Schmahl ihre Perspektiven als Keynote auf unserem we.Xplore am 17. September 2025 in Leipzig mit uns teilen wird.
Frau Dr. Schmahl, Sie sehen täglich, wie innovative Start-ups auf etablierte Versicherer treffen. Was sind die häufigsten Stolpersteine bei einer Kooperation?
Aus unserer täglichen Arbeit bei Plug and Play sehen wir, dass die Zusammenarbeit zwischen Start-ups und etablierten Versicherern ein enormes Potenzial birgt. Doch die häufigsten Herausforderungen sind oft nicht technischer, sondern kultureller Natur und das nicht nur bei Versicherern, sondern industrieübergreifend bei den meisten unserer über 500 Unternehmenspartner:
Ein zentraler Stolperstein ist der Geschwindigkeit-Clash. Während Start-ups von agilen Iterationen und schnellen Entscheidungen leben, sind traditionelle Prozesse in der Versicherungsbranche – von der Risikoprüfung über die Rechtsabteilung bis zum Einkauf – oft zeitaufwendig. Das birgt die Gefahr, dass vielversprechende Ansätze in der Bürokratie versanden. Unsere Aufgabe ist es, diese unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu harmonisieren. So haben wir beispielsweise unseren Partner BNP Paribas und Cardif bei der Initiierung ihres B!UP-Explore-Programms genau dabei unterstützt, indem wir dedizierte Fast Lanes für den Einkauf und die Rechtsabteilung etabliert haben.
Ein weiterer entscheidender Punkt ist die IT-Integration. Viele Legacy-Systeme machen die Anbindung moderner, API-basierter Cloud-Lösungen zu einem teuren und risikoreichen Unterfangen. Selbst das innovativste Start-up scheitert, wenn die IT-Architektur nicht bereit ist. Plug and Play agiert hier als qualifizierter Intermediär, der Start-ups hinsichtlich technischer Anforderungen prüft und die Transparenz in frühen Phasen sicherstellt.
Ein drittes, oft unterschätztes Feld ist das fehlende branchenübergreifende Verständnis. Unserer Überzeugung nach liegt das größte Potenzial für Versicherer außerhalb der eigenen Branche. Wir sehen zahlreiche hochinnovative Start-ups in den Bereichen Gesundheit, HR, Mobilität oder Supply Chain. Viele von ihnen entwickeln erst über unser Netzwerk konkrete Anwendungsfälle für den Versicherungssektor. Obwohl dies enorme Differenzierungsmöglichkeiten gegenüber dem Wettbewerb schafft, scheuen viele Versicherer die Kooperation mit branchenfremden Partnern. Hier agieren wir als Vermittler, um dieses strategische Blindfeld aufzubrechen und branchenfremde Lösungen mit Ihrem Geschäftsmodell zu verheiraten.
Zuletzt scheitern Kooperationen an der mangelnden internen Verankerung. Ein Pilotprojekt, das nicht von der Führungsebene getragen wird, ist zum Scheitern verurteilt. Es braucht einen Corporate Champion, der nicht nur intern kommuniziert, sondern auch die relevanten Stakeholder aus den Fachabteilungen frühzeitig einbindet. Entscheidend ist dabei, dass der Return on Innovation nicht durch traditionelle KPIs wie die reine Anzahl von Pilotprojekten gemessen wird, sondern durch die klare strategische Ausrichtung auf messbare Wertschöpfung. Wir empfehlen das regelmäßige Neudenken von KPIs für Innovationsprojekte bzw. -strategien. Abhängig davon, wo sich das Unternehmen entlang der Innovation Journey befindet und welche Ziele erreicht werden sollen, ist eben ein KPI wie „Anzahl der Pilotprojekte” nicht das geeignete.
Sie haben durch Ihre EMEA-Rolle sicher auch einen globalen Überblick über die Insurtech-Szene. Im Ausland werden Trends durchaus schneller adaptiert: Welcher Trend ist Ihrer Meinung nach kein kurzfristiger Hype, sondern wird das Geschäftsmodell der Versicherer in den nächsten drei bis fünf Jahren fundamental und unumkehrbar verändern?
Der unumkehrbare Wandel der Versicherungsbranche wird nicht durch einen, sondern durch die Symbiose zweier Megatrends bestimmt, die das traditionelle Geschäftsmodell von Grund auf neu definieren.
1. Agentische KI als Katalysator für Effizienz und Service
Die Transformation wird durch die Etablierung von agentischer KI und autonomen digitalen Mitarbeitern vorangetrieben. Während herkömmliche KI bereits Workflows optimiert, gehen autonome Agenten einen entscheidenden Schritt weiter: Sie können komplexe, End-to-end Prozesse selbstständig ausführen.
- Fundamentale Effizienzgewinne: agentische KI-Systeme revolutionieren manuelle Workflows und die Dokumentenverarbeitung. So können sie im Claims Management eingesetzt werden, um eine neue Welle der ganzheitlichen Innovation zu ermöglichen. Start-ups wie Tractable nutzen KI zur automatisierten Schadenbeurteilung, während ARCHETYPE AI intelligente Dokumentenverarbeitung anbietet. Diese Automatisierung ist kein einfacher Effizienzgewinn, sondern eine Neugestaltung des Kernprozesses.
- Revolution der Kundenkommunikation: GenAI findet erste Anwendungsfälle im Kundensupport. Start-ups wie UNIQUE erhalten beachtliche Finanzierungen unter Beteiligung von Banken. Solche KI-Lösungen gehen weit über Chatbots hinaus; sie können Anfragen autonom bearbeiten und den menschlichen Agenten entlasten
- Proaktives Risikomanagement: Anstatt nur auf Schäden zu reagieren, werden Versicherer zu proaktiven Risikomanagern. Im Bereich der Cyber-Sicherheit sehen wir beispielsweise den Einsatz von KI-Agenten zur Überwachung und Abwehr von Bedrohungen. Dies ist entscheidend, da das World Economic Forum Cybersicherheit als eine der größten Bedrohungen identifiziert hat. Start-ups wie stoik und Coalition sind hier federführend.
2. Die Macht der datenbasierten Ökosysteme
Parallel dazu verschiebt sich der Fokus von standardisierten Produkten hin zu hyper-personalisierten Lösungen und präventiven Services. Die Grenze zwischen dem klassischen Versicherungsgeschäft und angrenzenden Branchen wie Gesundheit, Mobilität oder Wohnen verschwimmt.
Wer diese datenbasierten Ökosysteme am besten aufbaut und die Kundenschnittstelle kontrolliert, wird in Zukunft nicht nur dominieren, sondern überleben. Das Überleben hängt nicht mehr nur davon ab, wer das beste Produkt hat, sondern wer das beste Kundenerlebnis und die relevantesten Services bietet. Dieser Trend ist keine kurzfristige Mode, sondern eine evolutionäre Notwendigkeit.
Bevor es überhaupt zur Idee kommt, braucht es einen guten Überblick über Trends und aktuelle Entwicklungen, die vielleicht erst in fünf bis zehn Jahren ihren Impact zeigen. Inwieweit wirkt Plug & Play in diesem vorgelagerten Prozess?
Unsere Rolle ist es, Versicherer nicht nur mit Start-ups zu verbinden, sondern diese proaktiv in die Zukunft zu führen. Wir agieren als ein globales Frühwarnsystem für unsere Partner.
Dies geschieht aus einer ureigenen, intrinsischen Motivation. Als einer der aktivsten Risikokapitalgeber weltweit haben wir ein starkes Eigeninteresse daran, die innovativsten Start-ups zu finden – oft noch im Stealth-Modus. Dieser massive Deal Flow von über 50.000 Start-ups ist der strategischer Vorteil, den wir zum Versicherer bringen.
Möglich ist dies durch unser globales Netzwerk, das wir seit über 20 Jahren pflegen. Mit physischen Büros in den größten Innovationszentren wie dem Silicon Valley, Singapur, Tel Aviv oder München sind wir nicht nur am Puls der Zeit, sondern auch in der Lage, globale Trends zu übersetzen und auf ihre Relevanz für den europäischen Markt zu prüfen.
Wir stellen diese Erkenntnisse unseren Partnern in kuratierten Workshops, Trend-Insights und Innovationssprints zur Verfügung. Es geht nicht darum, Start-ups zu präsentieren, sondern gemeinsam mit Versicherern zu erarbeiten, welche langfristigen Trends für ihr Geschäftsmodell relevant sind. Ein Beispiel ist das Thema künstliche Intelligenz: Während Wettbewerber noch über Chatbots nachdenken, diskutieren wir mit unserern Partner bereits über den Einsatz von GenAI und Agentic AI zur Automatisierung komplexer Underwriting-Prozesse oder zur Betrugserkennung.
Indem wir die richtigen Akteure zusammenbringen – von Fachexperten bis hin zu C-Level-Entscheidern – fördern wir ein tiefes Verständnis für die zukünftige Marktentwicklung. So können unsere Partner ihre Innovationsstrategie proaktiv gestalten, anstatt nur auf Trends zu reagieren. Lassen Sie uns die Innovationen von morgen nicht nur verstehen, sondern gemeinsam aktiv mitgestalten.