„Der Versicherungsvertrieb der Zukunft kommt auch ohne Berater aus, denn KI überflügelt diesen in vielerlei Hinsicht.“ – Stimmt das?
Künstliche Intelligenz umtreibt die Menschheit nicht erst seit gestern. Wurde sie bis vor wenigen Jahren noch vorrangig in der Science Fiction thematisiert, so ist aus der Fiktion mittlerweile eine ernstzunehmende Option für die Gegenwart und Zukunft geworden. IBMs hauseigene KI Watson schlug bereits 2011 zwei der renommiertesten Jeopardy-Spieler in eben jenem Spiel vor laufenden Kameras. DeepMinds AlphaZero wurde 2017 innerhalb von nur vier Stunden Lernzeit und lediglich auf Basis der Regeln zum schier unbesiegbaren Schachspieler. Zudem werden Sprachassistenten wie Alexa, Siri oder Cortana, die für viele bereits alltägliche Begleiter sind, in Richtung künstlicher Intelligenz weiterentwickelt. Es verwundert also nicht, dass auch die Finanz- und Versicherungsbranche die Zeichen der Zeit erkennt. Sowohl junge Start-ups und InsurTechs als auch alteingesessene Versicherungshäuser arbeiten inzwischen an ihren eigenen maßgeschneiderten KIs. Die einen wollen den Markt revolutionieren, die anderen den Anschluss in der sich immer rasanter digitalisierenden Welt nicht verpassen. Die Einsatzbereiche sind vielfältig, die Zukunftsaussichten fabelhaft. Jedoch stolpert man recht schnell über einen Reizpunkt, der kleine und große Versicherungsunternehmen gleichermaßen beschäftigt: Macht künstliche Intelligenz eine menschliche Vertriebsmannschaft nicht früher oder später obsolet?
Wie reagiert man in der Branche auf das Thema?
Dass durchaus eine Angst vor diesem Szenario besteht, zeigte sich auf der DKM 2018. Die großen Versicherer sangen Lobeshymnen auf persönliche Beratung und Vertrieb sowie die unersetzbare Empathie und die Fähigkeit der Berater, auch komplexe Sachverhalte zuverlässig zu behandeln. Die Digitalisierung würde zwar vieles grundlegend ändern, jedoch sehe man die neuen Technologien eher als unterstützende Werkzeuge für die Menschen. Erfahrungsgemäß entstehen derartige Vertrauensbekundungen zumeist dann, wenn sich in der Masse Unruhe breitmacht.
Für die Aussagen jener Versicherer spricht, dass die erste „revolutionäre Welle“ von InsurTechs momentan abgeebbt ist. Zumindest für beratungsintensive Produkte, wie den Lebensbereich, scheinen Kunden nicht bereit, auf echten menschlichen Kontakt zu verzichten. Bei weniger komplexen Produkten wie Kfz-, Hausrat- oder Haftpflichtversicherungen können sich jedoch 57 Prozent der Bundesbürger bereits einen Online-Abschluss vorstellen. Sogar in den sonst so technikaffinen USA bevorzugen nach wie vor knapp 60 Prozent der Millenials eine persönliche Beratung.
Ist der Vertrieb diesen Anforderungen gewachsen?
Der Trend wird deshalb darin gesehen, dass die persönliche Komponente nur noch bei komplexen Sachverhalten, beispielsweise Lebensversicherungen, gefragt ist, während KIs die simpleren Aufgaben komplett übernehmen und zudem als vertriebsunterstützender Ratgeber den Vermittler entlasten. Dies würde eine höhere Effizienz bei gleichzeitiger Kostensenkung mit sich bringen. So behauptet Dr. Carsten Schildknecht, Vorstandsvorsitzender der Zurich Gruppe Deutschland, dass „mehr Qualität, mehr Geschäft und niedrigere Kosten (…) keine divergierenden Ziele (sind).“ Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Zugangskanäle für die Kunden dem digitalen Zeitalter angepasst und die Berater den neuen Herausforderungen gerecht werden. Tatsächlich wird ein Wandel vom Berater hin zum persönlichen Assistenten erwartet, der Gewinn nicht am bloßen Umsatz, sondern an der Kundenzufriedenheit misst. Problematisch daran ist, dass sich nur wenige auf diesen Wandel gut vorbereitet sehen.
Genau das wird jedoch eine zentrale Rolle im Kampf um den zukünftigen Versicherungsmarkt spielen. Es bedarf eines hohen fachlichen Niveaus, um sich von Maschinen abzuheben – doch kann dieses auch flächendeckend erreicht werden?
Skeptiker gibt es jedenfalls reichlich. Dr. Robin Kiera beispielsweise behauptet: „Im Moment der digitalen Wahrheit werden sich Versicherer von ihrer Verkaufsmannschaft trennen.“ Er prophezeit dem Versicherungsvertrieb das Schicksal der Tante-Emma-Läden: Anfangs konnte sich niemand den Wocheneinkauf ohne persönliche Betreuung vorstellen, wenige Jahre später war der anonyme, sterile Discountereinkauf Alltag und der Laden um die Ecke de facto ausgestorben.
Dass der Berufsstand des Versicherungsvermittlers ein arges Imageproblem hat, ist nur eines der Argumente, die Kieras These stützen. Qualifizierter Nachwuchs ist Mangelware, der Altersdurchschnitt steigt und ein Vermittlersterben hat bereits eingesetzt, Maklerbetriebe haben an Attraktivität verloren und zu allem Überfluss droht Gigantenkonkurrenz. Google, Amazon, Facebook und Apple kennen die Kunden sehr genau und haben den direkten Kundenzugang, Perspektivisch könnten damit auch Alexa und Co. zur Konkurrenz werden, sollten sie die vielen gesammelten persönlichen Daten nutzen, um eigene Versicherungsangebote zu unterbreiten.
Noch ist die Technik nicht so weit, einen Menschen vollwertig zu ersetzen. Viele bezweifeln, dass es je dazu kommen wird. Doch kann man dies in Anbetracht des rasanten Fortschritts der künstlichen Intelligenzen wirklich ausschließen? Und selbst wenn die neuen Technologien nur Unterstützer und Ratgeber werden sollten, muss nicht dennoch sofort viel unternommen werden, um künftig die Vorteile persönlicher Beratung überhaupt ausspielen zu können?
Die großen Versicherungsunternehmen scheinen die Gefahr, die neben den zweifelsfrei großen Chancen von neuen Technologien besteht, aussitzen zu wollen. Wenn man sieht, wie vehement persönliche Beratung verteidigt und die Gefahren des digitalen Wandels heruntergespielt werden, kommen Zweifel auf, ob der menschliche Berater tatsächlich so unantastbar ist.