„Die große Frage ist: Wie schaffe ich es, dass ich als Versicherer nicht irgendwann ersetzbar werde?“
Im Interview verrät Prof. Kawohl, welche Chancen, Herausforderungen und Voraussetzungen der Aufbau eines Ökosystems birgt und warum auch Unternehmen aus der Versicherungsbranche auf den Ökosystem-Zug aufspringen sollten.
Julian Kawohl ist Professor für strategisches Management an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin und Gründer von Ecosystemizer. Mit dessen eigens entwickeltem Methodenbaukasten unterstützen er und sein achtköpfiges Team Unternehmen weltweit bei der strategischen Entwicklung und dem Aufbau von Business-Ökosystemen. Im Interview verrät Prof. Dr. Kawohl, welche Chancen, Herausforderungen und Voraussetzungen der Aufbau eines Ökosystems birgt und warum auch Unternehmen aus der Versicherungsbranche auf den Ökosystem-Zug aufspringen sollten.
Für wen ist das Thema Ökosysteme beziehungsweise die Etablierung eines Ökosystems interessant?
Grundlegend für alle Unternehmen, mittel- bis langfristig. So gut wie alle Märkte entwickeln sich, mal mehr, mal weniger, ökosystemisch. Gerade Versicherer haben über ihre Kunden Bezugspunkte zu fast allen anderen Branchen und Bereichen, im B2B-Bereich sowieso, aber auch im Leben der Menschen. Und wenn sich Märkte verändern, weil mehr integrierte Angebote erfolgen, müssen zwangsläufig alle verstehen, in welche Richtung es geht und wie man das eigene Unternehmen ins Boot holt.
Dabei kann man differenzieren zwischen Unternehmen, die bereits ein Mehrspartenportfolio haben und ihre Kunden sowieso schon über einzelne Produktkategorien hinweg ansprechen, und Unternehmen, bei denen das noch nicht der Fall ist, die vor allem stark in nur einer Branche oder spezifischen Segmenten vertreten sind. Für erstere ist der Auf- oder Ausbau eines Ökosystems oder die Beteiligung in einem solchen nochmal wichtiger, weil sie sozusagen ohnehin mehr mit zur Party bringen, eine bessere Datenbasis und mehr Anknüpfungspunkte für Offerings von Dritten und integrierte Mehrwertservices haben. Unternehmen, bei denen das nicht der Fall ist, müssen wiederum aufpassen, dass sie nicht abgehängt werden, wenn sie sich ausschließlich auf ihr Kerngeschäft fokussieren. Das heißt, globalgalaktisch gesehen ist es für alle interessant. Das Wichtige ist, die eigene Perspektive und mögliche Anknüpfungspunkte zu identifizieren, und aus dem erschließt sich dann, wie dringend die Notwendigkeit ist.
Unter welchen Bedingungen kann ein Ökosystem erfolgreich sein?
Aus Sicht des Unternehmens muss ich ein Commitment auf lange Sicht mitbringen. Ein Produkt kriege ich kurzfristig auf den Markt. Bei einem integrierten Angebot oder einer sogenannten Experience wie beispielsweise einem Nachsorgeservice im Healthcare-Bereich sieht das anders aus. Auf der einen Seite kann ich einen überlegenen Mehrwert für meine Kunden schaffen. Auf der anderen Seite muss ich Zeit und Ressourcen aufwenden, um überhaupt identifizieren zu können, welche Themenfelder mit welchen Partnern interessant und was die konkreten Geschäftsmodelle sind. Das muss ich testen, Erfahrungen sammeln, und den wirklichen Vorteil habe ich dann dadurch, dass ich Lock-in-Effekte schaffe, dass ich die Kunden besser binden kann und zusätzliche Erlösquellen identifizieren kann. Das dauert. Da brauche ich den langen Atem, den Willen, durchzuhalten, und eine Organisation, die auch in Ökosystem-Geschäftsmodellen denken kann, handwerklich tiefer gehen und das Ganze von einer Idee hin zu einem Pitch-Deck zur Vermarktung bringen kann. Ich brauche also ein passendes Mindset, eine passende Organisation und die Erkenntnis, dass ich auf der Doing-Ebene Zeit brauche.
Warum ist das Thema vor allem für Versicherer interessant?
Versicherer haben unterschiedlichste Bezugspunkte in die Leben der Menschen. Das ist auch mein Ansatz: Weg vom Denken in Branchen hin zum Denken in Lebensbereichen. Versicherer sollten überlegen, was sie für einen Wert im Leben der Menschen schaffen können. Das haben die großen Ökosystem-Player wie aus der Tech- oder Automobilbranche gut geschafft. Das Verständnis, wie bestimmte Branchen und Unternehmen funktionieren, ist ja schließlich da.
Dazu kommt das Thema Daten, die im Moment häufig noch zu wenig genutzt werden. Als Versicherer habe ich oft die Möglichkeit, Daten zu erheben und retrograd auch zu nutzen. Ich habe aber auch die Notwendigkeit, mein Angebot weiterzuentwickeln und kundennäher zu gestalten. Die große Frage ist: Wie schaffe ich es, dass ich als Versicherer nicht irgendwann ersetzbar werde? Versicherer haben die Chance, ihre Daseinsberechtigung durch Ausbau und Weiterentwicklung ihres Angebots zu beweisen, und eben auch in andere Ökosysteme einzubringen.
Welche Herausforderungen kann die Etablierung eines Business-Ökosystems bergen und wie können die zuständigen Mitarbeitenden damit umgehen?
Das Verständnis, das Mindset und die DNA für den Aufbau eines Ökosystems muss häufig noch auf- oder zumindest ausgebaut werden, weil Versicherer wie viele traditionelle Unternehmen oftmals noch stark produkt- oder servicegetrieben sind. Auch die Offenheit und den Mehrwert für Kooperationen zu erkennen, ins Risiko zu gehen, mit anderen Geschäftsmodelle zu entwickeln oder zu betreiben und Daten zu teilen und gemeinsam auf neues Terrain zu gehen für Angebote, die es so noch nicht gibt, muss gegeben sein. Die Herausforderung ist natürlich, das in der Organisation zu vertreten, dafür Mittel zu bekommen und Stakeholder zu überzeugen. Das ist die wesentliche Herausforderung.
Auch die Mitarbeitenden müssen abgeholt werden. Häufig sind sie in ihrem Background und Alltag gefangen und nicht immer direkt offen für Neues, vor allem wenn es ein potenzielles Risiko für ihre Jobs birgt. Auf Mitarbeitenden-Ebene sind zwei häufige Fragen, ob ihr Job jetzt jemand anderes übernimmt, ob man sich nicht verzettelt, wenn man das Angebot erweitert und die reine Versicherung nicht mehr im Fokus steht. Häufig stellen sich die Fragen: What’s in it for me? Bin ich noch wichtig, wenn das Geschäft woanders verläuft? Die große Frage ist: Wie werde ich wirklich kundenzentrierter und erzähle es nicht nur? Das ist der Charme und die Kunst: Anzuerkennen, dass ich als Versicherer wie viele andere Unternehmen noch einen langen Weg vor mir habe, und zu erkennen, dass ich als Mitarbeitende in einem noch attraktiveren Unternehmen arbeite, wenn dort ökosystemischer und kundenzentrierter gearbeitet wird.