Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Betrug bei Schadenmeldungen

Betrügerische Aktivitäten steigen nachweislich nach Naturkatastrophen und während wirtschaftlicher Abschwünge. Mit Ausbruch der COVID-19-Pandemie Ende 2019/Anfang 2020 steht die Wirtschaft aktuell beiden Herausforderungen gegenüber. Welche Auswirkungen wird diese Pandemie auf den fingierten Teil der Schadenmeldungen der Versicherungswirtschaft haben – und was sollten Versicherer in Bezug auf Betrugserkennung jetzt tun?

Typ:
Artikel
Rubrik:
Schaden & Leistung
Themen:
Schaden-/Leistungsmanagement Betrugsmanagement
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Betrug bei Schadenmeldungen

Betrügerische Aktivitäten steigen nachweislich nach Naturkatastrophen und während wirtschaftlicher Abschwünge. Mit Ausbruch der COVID-19-Pandemie Ende 2019/Anfang 2020 steht die Wirtschaft aktuell beiden Herausforderungen gegenüber. Welche Auswirkungen wird diese Pandemie auf den fingierten Teil der Schadenmeldungen der Versicherungswirtschaft haben?

Vor allem die etablierten Software-Anbieter zur Erkennung von Betrug (beispielsweise FRISS, Shift, Verisk) weisen bereits jetzt auf einen starken Anstieg auffälliger Schadenmeldungen hin. Dieser Anstieg kann verschiedene Ursachen haben (tatsächlich mehr vorgetäuschte Schadenfälle, Anpassung der Regelwerke beim Versicherer, Einsatz zusätzlicher Betrugs-Spezialisten). Deutsche Kfz-Schadensachbearbeiter berichten beispielsweise von intensiveren Prüfungen während des Lockdowns im Frühjahr 2020, weil sie aufgrund des gesunkenen Gesamtschadenaufkommens schlichtweg mehr Zeit zur Sachbearbeitung hatten.

Aktuell ist es noch zu früh, eindeutige Schlüsse zwischen der Pandemie und betrügerischen Schadenfällen zu ziehen, sagt Roland Wörner, heute selbständiger Berater und langjähriger Betrug-Spezialist verschiedener Versicherer im DACH-Raum. Mit Sicherheit beobachte man das aktuell nur in der Unfall- und Privaten Krankenversicherung.

Nach Aussage von Michael J. Smith, Geschäftsführer der Coalition Against Insurance Fraud, gibt es allerdings reale Indikatoren für die gestiegene Betrugsneigung: Die Zahl der Google-Suchanfragen nach „Wie man ein Auto verbrennt“ und ähnlichen Fragestellungen ist seit Januar 2020 um 125 Prozent gestiegen.

Psychologische Erklärung der Betrugsneigung

Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass überall dort, wo die menschliche Interaktion reduziert wird, es vermehrt zu Betrug kommt. Das kann beispielsweise sein:

  • die Zunahme von inszenierten Unfällen und Fahrzeugdiebstählen,
  • die Abrechnung für ärztliche Behandlungen, die nicht stattgefunden haben oder
  • gestellte Unfälle im häuslichen Umfeld.

Die Hintergründe sind psychologisch leicht erklärbar: Viele dieser Betrügereien bieten eine einfache Möglichkeit, das Einkommen in einer unsicheren Wirtschaftsperiode zu stabilisieren oder zu kompensieren. Wenn man versteht, warum ansonsten grundsolide Personen Betrug begehen, kann die Schadenbearbeitung entsprechend angepasst werden.

Das Betrugs-Dreieck

Der Kriminologe Donald Cressey entwickelte bereits in den 1950er-Jahren das Betrugs-Dreieck, wonach drei Faktoren zusammentreffen müssen, damit Wirtschaftsstraftaten begangen werden:

  • (Innere) Rechtfertigung: Die Person hält einen Betrug für gerechtfertigt.
  • Druck beziehungsweise Motiv: Hier können finanzielle Notlagen, Drogenabhängigkeit, Spielsucht oder der Wunsch nach einem verschwenderischen Lebensstil zum Tragen kommen.
  • Gelegenheit: Wegen fehlender Kontrollen bietet sich die Möglichkeit, Betrug zu begehen.

Alle drei Aspekte treffen in Krisenzeiten verstärkt aufeinander: Viele Unternehmen verzeichnen Umsatzrückgänge, Mitarbeiter arbeiten verkürzt und verzichten auf Gehalt, sodass sich finanzielle Engpässe ergeben. Es ist ein leichtes, den Betrug für sich selbst zu rechtfertigen: Über Jahre hat man regelmäßig Prämien für den Versicherungsschutz gezahlt, jedoch nie einen Schaden gemeldet. Aber jetzt – in der Krise – benötigt man finanzielle Unterstützung. Und letztlich kommt der dritte Aspekt der „Gelegenheit“ hinzu, wenn der Nachbar von seinem Versicherungsfall erzählt, bei dem kein Sachverständiger den Leitungswasserschaden vor Ort begutachtet hat, weil die Sicherheitsrichtlinien des Versicherers es aktuell nicht zulassen.

Traditionelle Betrugsindikatoren nur bedingt anwendbar

Bestehende Strategien zur Betrugsbekämpfung sowie übliche Betrugsindikatoren basieren größtenteils auf gelernten Verhaltensweisen. In einer Rezession sind Verhaltensweisen von Menschen aber weniger vorhersehbar, alles ist eine Abweichung von der Norm.

Das Verhalten der Menschen hat sich geändert, sodass manche Schadenmeldungen nach Standard-Regelwerken verdächtig erscheinen, aber es tatsächlich nicht sind. Beispiel: Aufgrund von Ausgangsperren oder Kontaktbeschränkungen ist es nicht unüblich, eine Rechnung für Telemedizin-Dienste einzureichen, auch für die Behandlung einer Knöchel- oder Nackenverletzung. Vor COVID-19 wären diese Verletzungen nicht virtuell behandelt worden.

Allerdings kennt der Ideenreichtum von Betrügern auch keine Grenzen: Wenn Menschen dringend Geld brauchen, werden die Mittel, um es zu bekommen, sehr kreativ und passen sich gegebenenfalls auch zügig an.

Betrugsexperten, mit denen die Versicherungsforen gesprochen haben, sehen aktuell Anzeichen dafür, dass es zu "Mitnahmeeffekten“ in der Privaten Haftpflichtversicherung (PHV) und im Kraftfahrtbereich kommt. Möglicherweise begründet durch private Einschränkungen (wie Kurzarbeit) scheint die Hemmschwelle vor der Geltendmachung von kleineren Dubiosschäden gerade im Privatkundenbereich nicht unerheblich geringer zu sein. Versicherer sehen zum Beispiel vermehrte KH-Schäden mit nicht angegebenen beziehungsweise verdeckten Vorschäden sowie PHV-Schäden, bei denen eigentliche Eigenschäden von Bekannten und Familienmitgliedern verursacht sein sollen. Es wurde zudem angedeutet, dass sich in der Kasko-Versicherung möglicherweise ein Trend entwickelt, finanzierte Fahrzeuge mit GAP-Deckung vermehrt einem – wie auch immer herbeigeführten – Totalschaden zuzuführen.

Allerdings, das betonen die befragten Experten, ist es für eine begründete Aussage noch zu früh. Betrug-Spezialist Roland Wörner meint jedoch, dass nach dem Pandemie-Erdbeben der Betrugs-Tsunami folgen wird.

Betrug findet in allen Wirtschaftsbereichen statt

Betrug ist mitnichten nur ein Thema für die Versicherungswirtschaft. Um die Auswirkungen der globalen Pandemie auf die Betrugsbekämpfung zu beleuchten, führte die Association of Certified Fraud Examiners (ACFE) von Ende April bis Mitte Mai 2020 ein Benchmarking über Betrugsrisiken und Betrugsbekämpfungsprogramme im aktuellen Umfeld durch.

Der Bericht über die erwarteten Änderungen in den nächsten zwölf Monaten bezieht sich auf den ungefähren Zeitraum von Mai 2020 bis Mai 2021. Mit Blick auf die Zukunft erwarten Betrugsbekämpfungsfachleute eine noch stärkere Verschiebung des gesamten Betrugsniveaus über alle Wirtschaftszweige hinweg: Die Befragten (93 Prozent) rechnen mit einer Zunahme des Betrugs im nächsten Jahr; mehr als die Hälfte der Befragten prognostizieren einen signifikanten Anstieg.

Demnach gehört Cyberbetrug zu den Bedrohungen, die während der COVID-19-Pandemie am stärksten zugenommen hat. Die Befragten rechnen auch mit einem Anstieg des Versicherungsbetrugs.

Fazit

Nach Einschätzung von Experten werden betrügerische Schadenmeldungen in den kommenden Monaten krisenbedingt stark ansteigen. Die Versicherer sind sich dessen bewusst, nicht zuletzt aus den Erfahrungen der Finanzkrise 2008/2009 heraus. Unsicher ist, wie deutlich der Anstieg in Anbetracht der erwarteten Rezession ausfallen wird. Allerdings korreliert dieser Anstieg auch mit den Maßnahmen, die Versicherer jetzt ergreifen, sprich die Kapazitäten in diesen Bereichen (wieder) hochzufahren, um Schäden zu prüfen und Auffälligkeiten zu erkennen. Damit korreliert dann ebenso der unbekannte Anteil der Fälle, die nicht erkannt werden und die Schadenquoten deutlich erhöhen.

Betrugserkennung ist eine ständige Herausforderung, die sich mit technologischen und wirtschaftlichen Entwicklungen mit- und weiterentwickeln muss. Wichtig sind interne Kontrollen, abgestimmte Prozesse und ein permanenter Austausch in der Branche über Erfahrungen, Daten und Strategien.

 

Quellen:
Claims Journal: Friss: Fraud Investigations Rising Even as Claims Volumes Drop, 29. Juni 2020
Shift Technology: Fraud Insights, Sonderausgabe Covid-19, deutsche Ausgabe
Friss Blog: Versicherungsbetrug in Krisenzeiten
Innovation Group UK: The impact of the recession on fraud, Juni 2020
ACFE: Fraud in the Wake of COVID-19: Benchmarking Report